Ehem. Altarbild der Kirche St. Nicolaus

Ehem. Altarbild der Kirche St. Nicolaus (Foto: KUNST@SH/Jan Petersen, 2024)

Daten zum Werk

Ehem. Altarbild der Kirche St. Nicolaus (1938, Sgraffito, neu aufgestellt 2022)
Evangelische Stiftung Alsterdorf, Lern- und Gedenkort, Dorothea-Kasten-Straße 5, 22297 Hamburg (Alsterdorf)

Routenplaner: 53.61306, 10.02227


Beschreibung

Die Evangelische Stiftung Alsterdorf wurde in ihren Anfängen 1850 in Moorfleet durch den Pastor Heinrich Matthias Sengelmann (* 1821, † 1899) für sozial benachteiligte Kinder gegründet. Einige Jahre später verlegte er den Sitz nach Alsterdorf und begründete dort 1863 mit zunächst vier geistig behinderten Jungen die Alsterdorfer Anstalten. Die Behindertenbetreuung wurde bald der Schwerpunkt der Alsterdorfer Arbeit. Als Sengelmann 1899 starb, lebten bereits mehr als 600 geistig, körperlich und seelisch behinderte Menschen sowie 140 Mitarbeiter und ihre Familien in den Alsterdorfer Anstalten.

Noch zu seinen Lebzeiten wurde 1889 auf dem Gelände die Kirche St. Nicolaus im neugotischen Stil durch den Architekten Gustav Otte erbaut. Bei der Renovierung, die 1938 von den Architekten Berhard Hopp und Rudolf Jäger vorgenommen wurde, entstand an der Ostwand anstelle des bisherigen Fensters ein großes Altarbild in Kratzputz-Technik, das eine Gruppe von Menschen unterhalb des gekreuzigten Christus sowie vier Engel zeigt. Die künstlerische Urheberschaft des Wandbildes ist nicht eindeutig geklärt. Häufig wird der damalige Pastor Friedrich Karl Lensch (* 1898, † 1976) als Künstler genannt, doch ist es wahrscheinlicher, dass der Architekt und Dekorationsmaler Bernhard Hopp (* 1893, † 1962) die Gestaltung in Abstimmung mit Lensch übernahm. Dieser führte wohl lediglich einige Malereien der Gesichter aus. Das Wandbild entstand  anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der Anstaltsgründung und greift die Geschichte der Einrichtung bildhaft auf.

Die Gestaltung ist formal und inhaltlich ungewöhnlich für ein Altarbild. Es zeigt unterhalb des Kreuzes nicht die üblichen Personen aus der Bibel, sondern eine Zusammenstellung verschiedener Menschen, von denen zumindest der deutsche Reformator Martin Luther (* 1483, † 1546) am linken Bildrand und der Anstaltsgründer Heinrich Sengelmann rechts vom Kreuz eindeutig zu erkennen sind. Die Personen neben Sengelmann sollen die erste Ehefrau Adele und der gemeinsame Sohn Gustav sein, die beide bereits vor der Gründung der Anstalten verstarben, sowie die zweite Ehefrau Jane Elisabeth „Jenny“ und der Junge Carl Koops (* 1848, † 1893), einer der ersten Bewohner der Stiftung. Die drei Personen zwischen dem Kreuz und Martin Luther werden zumeist als Maria, der Jünger Johannes sowie Johannes der Täufer benannt. Sechs weitere Personen befinden sich am unteren Bildrand, darunter ganz rechts eine Schwester mit einem offenbar behinderten Zögling. Vier Engel, darunter die Erzengel Gabriel und Michael, begleiten die Szene.

Im Zentrum des Bildes befindet sich Jesus am Kreuz. Die fünfzehn Personen in hellen Gewändern gruppieren sich unterhalb und richten sich in zwei Reihen winkelförmig auf Martin Luther aus, wenden sich zugleich dem Kreuz zu. Die dezenter gestalteten Engel umrahmen die Szene im oberen Bereich, wobei der Erzengel Michael mit mächtigem Schwert hinter Luther steht und der Engel der Verkündigung, der Erzengel Gabriel, hinter der Frau mit dem Säugling. Der goldene Schein um das Kreuz wiederholt sich in den goldenen Scheinen um die Köpfe von zwölf der Personen. Die Figuren sind im Stil der Neuen Sachlichkeit gezeichnet. Zeittypisch ist die Darstellung zeitgenössischer Personen unter dem Kreuz wie auch die Betonung der Rolle Martin Luthers, was sich beides stark von den tradierten Bildern unterscheidet.

Während der Zeit des Nationalsozialismus waren Pastor Friedrich Lensch als Direktor und Dr. Gerhard Kreyenberg als Oberarzt verantwortlich für die Betreuung und Behandlung der Bewohner. Beide folgten nachweislich der NS-Ideologie, die geistig behinderte Menschen als minderwertig ansah. In der Folge kam es zu menschenunwürdigen Behandlungen, Zwangssterilistationen sowie dem Abtransport von 630 Kindern, Männern und Frauen in andere Einrichtungen. Von 513 dieser Personen ist bekannt, dass sie in verschiedenen Einrichtungen umgebracht worden sind, durch Gift, Medikamente, Gas, Nahrungsmittelentzug oder Vernachlässigung.

Lange ist das Schicksal der Opfer verschwiegen worden. Erst Jahrzehnte später begann eine öffentliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung. In diesem Zusammenhang wurde auch das Altarwandbild der Kirche umgedeutet und als Spiegel der nationalsozialistischen Ideologie interpretiert. So wird der Gekreuzigte zuweilen als „arischer Muskelmann“ bezeichnet, wenngleich diese Bezeichnung angesichts der gequälten und geschundenen Figur jeder Grundlage entbehrt. Ferner wird der Umstand, dass drei von fünfzehn Personen ohne Glorienschein dargestellt sind, als Verweis auf deren „Minderwertigkeit“ gemäß der damaligen Ideologie gesehen. Er könnte jedoch nach anderer Lesart auch darauf hindeuten, dass diese drei Personen noch nicht konfirmiert sind und daher noch keine vollwertigen Mitglieder der Kirche waren. Die an verschiedenen Stellen geäußerte Interpretion, die drei Kinder ohne den Schein seien aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, lässt sich nicht nachvollziehen. Denn alle drei werden fürsorglich und liebevoll behandelt und in die Gruppe integriert.

Diese Umdeutung des Bildes führte dazu, dass es im Jahr 2021-22 aus der Altarwand gesägt und im Außenraum im Rahmen des neu errichteten Lern- und Gedenkortes und der „Straße der Inklusion“ neu inszeniert wurde. Dort wird die Geschichte der Stiftung und das Verständnis zu Menschen mit Behinderung im Laufe der Zeit spür- und erlebbar. Durch die spiegelnde Scheibe und mehrere Streben wird der Blick auf das Bild bewusst erschwert und fragmentiert, um eine Distanz zum Betrachter zu erreichen.

Weitere Informationen (extern): Evangelische Stiftung Alsterdorf / Straße der Inklusion / Wikipedia / Gedenkstätten in Hamburg / E-Book Hopp-und-Jäger-Projekt

Person

Bernhard Hopp
Bernhard Hopp wurde am 28. Oktober 1893 in Hamburg geboren. Nach einer Malerlehre besuchte er ab 1919 die Kunstgewerbeschule in Hamburg. Als Kunstmaler und Bildhauer gestaltete er u.a. Innenräume. 1930 gründete er die „Werkstätten für kirchliche Kunst“ im Rauhen Haus in Hamburg. Im selben Jahr begann er eine Bürogemeinschaft mit dem Architekten Rudolf Jäger (1903–87), mit dem er gemeinsam für viele Kirchenbauten im Großraum Hamburg, sowie vereinzelt auch bis ins Rheinland, verantwortlich war. Von 1945 bis 1950 war er zudem kommissarischer Denkmalpfleger in Hamburg. Bernhard Hopp starb am 18. September 1962 in Hamburg.

Weitere Informationen (extern):Website Wikipedia

Friedrich Lensch
Friedrich Karl Lensch wurde am 10. August 1898 in Neugalmsbüll in Nordfriesland geboren. Ab 1917 studierte der Sohn eines Pastors Theologie, musste das Studium aber wegen des Krieges unterbrechen. Nach Kriegsende setzte er sein Studium an den Universitäten Halle, Tübingen und Kiel fort. Ab 1924 war er drei Jahre als Seemannspastor in Nordengland und ab 1927 in Hamburg tätig. 1930 wurde er Pastor der Kirche St. Nicolaus an den Alsterdorfer Anstalten. Kurz darauf wurde er dort als Direktor berufen und blieb in dieser Funktion bis Anfang Oktober 1945. Er war Mitglied des Wehrverbandes Stahlhelm, später auch der Sturmabteilung (SA), der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV). Unter seiner Leitung wurde den Alsterdorfer Anstalten 1941 das Gau-Diplom für einen mustergültigen Betrieb verliehen. Er billigte Zwangssterilisationen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses auch an Bewohnern der Anstalten. Ab 1938 ließ er 26 ihm anvertraute jüdische geistigbehinderte Insassen der Alsterdorfer Anstalten aus der Einrichtung abschieben. Später wurden unter seiner Mitwirkung über 600 Menschen deportiert. Nach dem Kriegsende trat er von seinem Posten zurück. Bis 1963 hatte er die die Pfarrstelle der Christuskirche in Hamburg-Othmarschen inne. 1967 wurden von der Staatsanwalt Hamburg Ermittlungen gegen ihn eingeleitet, doch der Prozess gegen ihn wurde nicht eröffnet, weil dem Beschuldigten kein Vorsatz bei seinen Handlungen nachgewiesen werden konnte. Friedrich Lensch starb am 5. Januar 1976 in Hamburg.

Weitere Informationen (extern):Wikipedia

Galerie

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